Dokumentation zu diesem Projekt

Nazijagd. Justizflüchtige NS-Täter in Südamerika und die Auseinandersetzung mit staatlicher Gewalt seit 1945

Einführung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs suchten zahlreiche Europäer in Südamerika Zuflucht, da sie befürchten mussten, in ihrer alten Heimat vor Gericht gestellt zu werden. Während sich die Forschung bislang meist auf die jeweiligen Umstände der Flucht konzentrierte, ist Dr. Daniel Stahl im Rahmen seiner Dissertation erstmals der Frage nachgegangen, wie seit Kriegsende und bis in die unmittelbare Gegenwart hinein Staaten, Privatpersonen und nichtstaatliche Institutionen versuchten, nach Südamerika geflüchteter NS-Täter und Kollaborateure habhaft zu werden. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind die Wandlungsprozesse in verschiedenen Staaten und die transnationalen Verflechtungen bei der strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen. Leitfragen beziehen sich auf die Veränderung des Umgangs mit NS-Tätern oder Kollaborateuren und deren Auswirkungen auf die Versuche, sie dingfest zu machen, die Bedeutung dieser Bemühungen für die Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen und die Rolle der in mehreren Fällen erst Jahrzehnte später stattfindenden Prozesse gegen die Justizflüchtlinge.

Ergebnisse

Die Nazi-Jagd lässt sich aber nicht allein als Teil der strafrechtlichen Ahndung von NS-Unrecht verstehen. Dr. Stahl geht auch den Reaktionen südamerikanischer Regierungen und Behörden auf Auslieferungsersuche gegen NS-Täter nach. Diese ließen häufig erkennen, wie sich die zuständigen Stellen zu repressiven Maßnahmen im eigenen Land verhielten. Sowohl die „Nazijäger“ Europas als auch Politiker, Regimekritiker und Menschenrechtler in Übersee stellten einen Zusammenhang her zwischen der Anwendung beziehungsweise Aufarbeitung von Gewalt durch südamerikanische Regierungen und der Art und Weise, wie diese mit den Justizflüchtlingen verfuhren. Vor allem die Frage, inwiefern die Menschenrechtsverletzungen in Südamerika damit zusammenhingen, dass dort Personen lebten, die während des Zweiten Weltkriegs im Namen des „Dritten Reiches“ und seiner Verbündeten Verbrechen begangen hatten, wurde auf beiden Seiten des Atlantiks immer wieder diskutiert. Dr. Stahl spannt den Bogen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Gegenwart und zeigt, dass die Debatte über die Flucht von Nationalsozialisten nach Südamerika in den 1940er und 50er Jahren vor allem im Zusammenhang mit der Kritik am Regime des argentinischen Präsidenten Juan Domingo Péron stand, von dem man befürchtete, dass er den in Europa besiegten Faschismus am Leben erhalten könne. In den 1960er Jahren intensivierte zum einen die Bundesrepublik die strafrechtliche Ahndung von NS-Verbrechen, zum anderen wurde die Erinnerung an den Holocaust unter den Juden in Israel, den USA und Europa zu einem wesentlichen Bestandteil eigener Identität und führte ebenfalls dazu, dass Fahndungsbemühungen ein größeres Gewicht beigemessen wurde und auch die im Zusammenhang mit der Kritik am Peronismus hervorgebrachten Bedrohungsszenarien erneut in den Blick gerieten. In den 1970er Jahren wurde die Suche nach Justizflüchtlingen im Lichte der Repression rechter Diktatoren gegen die südamerikanische Zivilbevölkerung neu interpretiert. Menschenrechtsorganisationen, politische Dissidenten und linke Aktivisten, aber auch Nazijäger selbst sahen in den Juntas Boliviens, Chiles, Paraguays, Argentiniens und Brasiliens nicht nur die Beschützer untergetauchter NS-Täter, sondern auch deren Lehrlinge. Die Bemühungen, die Justizflüchtigen vor Gericht zu bringen, erlangten somit auch im Hinblick auf die politischen Verhältnisse in Südamerika Relevanz. Anfang der 1990er Jahre schließlich kehrte die Auseinandersetzung mit den Justizflüchtlingen zu ihrem Ausgangspunkt zurück: Der peronistische Präsident Carlos Menem sah sich mit kritischen Nachfragen zur Rolle Pérons bei der Einwanderung von NS-Tätern und Kollaborateuren konfrontiert, was für die argentinische Regierung sowohl mit Blick auf ihr Image einer im Faschismus wurzelnden Partei als auch im Zusammenhang mit der Frage nach der strafrechtlichen Verfolgung der Junta-Verbrechen Bedeutung erhielt.

Die Frage nach der Auslieferung justizflüchtiger NS-Täter wurde so einerseits zum Bestandteil der Auseinandersetzung mit autoritären Regimen der Nachkriegszeit, andererseits spielte die Haltung zu staatlicher Gewalt im Allgemeinen und zu den Justizflüchtlingen im Speziellen eine Rolle bei der Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen in Deutschland und Europa. Die Geschichte ihres anfänglichen Schutzes und später ihrer Auslieferung ist, wie Dr. Stahl darlegt, symptomatisch nicht nur für den Wandel im Umgang mit NS-Verbrechen, sondern auch für die politischen Veränderungen in Südamerika: Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich aus dem Problem der untergetauchten NS-Täter ein Element der Kritik an den autoritären Regimen, das schließlich zur Überwindung der Diktaturen beitrug.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützte das Dissertationsvorhaben durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums sowie die Übernahme von Reise- und Sachkosten und stellte einen Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung der Dissertation zur Verfügung.

Publikationen

Die im November 2013 mit dem Förderpreis „Opus Primum“ der VolkswagenStiftung ausgezeichnete Monographie ist im Berichtsjahr im Wallstein Verlag, Göttingen, erschienen:

Daniel Stahl, Nazi-Jagd. Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen, Göttingen 2012 (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 15)

Mehrere Artikel von Dr. Stahl zu seinen Forschungen in Südamerika und insbesondere zur Auslieferung des Chefs der Gestapo in Lyon Klaus Barbie finden sich auch im Wissenschaftsportal L.I.S.A. der Stiftung.

Dieses Projekt wurde im April 2014 dokumentiert.