Dokumentation zu diesem Projekt

Gewaltdarstellungen im spätmittelalterlichen Deutschland. Reaktionsformen und Rhetorik bildlicher Darstellungen von Martyrium und Passion

Einführung

Im 14. Jahrhundert entstanden in Kirchen im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe bildlicher Darstellungen, die das Sterben von Märtyrern in Verbindung mit extremen Formen von Gewalt zeigen. Zu sehen sind beispielsweise gespaltene Schädel, verstümmelte Gliedmaßen oder Enthauptungen. Die Darstellungen konzentrieren sich oft nicht auf das Leben, sondern allein auf die Hinrichtung der Heiligen und demonstrieren detailliert Techniken der Anwendung von Gewalt. Obwohl sie in einen kirchlichen Kontext eingebettet sind, löst die besondere Grausamkeit der Abbildungen die Taten von religiösen Assoziationen und kreiert ein Schauspiel der Gewalt, das aggressives Verhalten als moralisches Problem innerhalb eines ethischen Systems definiert.

Eine Forschergruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Assaf Pinkus und Prof. Dr. Martin Büchsel geht den in der Kunstgeschichte bislang wenig beachteten bildlichen Darstellungen extremer Gewalt (violentia) nach. Im Mittelpunkt der geplanten Untersuchungen stehen die Serien gewaltsamer Exekutionen und Torturen auf den in der Regel gut erhaltenen, aber teilweise noch nicht identifizierten Märtyrerzyklen des Spätmittelalters. Ziel ist es, Normen und Codes der Darstellung von Gewalt sowie deren visuelle Rhetorik zu untersuchen und dabei auch die Beziehungen zwischen realer und bildlich dargestellter Gewalt in den Blick zu nehmen. Die Hinrichtungen der Märtyrer sind auch im Zusammenhang mit strafrechtlichen Entscheidungen jener Zeit zu sehen, die sich nicht in schriftlichen Quellen wie den Legenden und Viten der Heiligen wiederfinden.

Zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert wurde in vielen mitteleuropäischen Städten ein System zur Dokumentation von Gewalttaten etabliert, das Kriterien für die Messung von Gewalt entstehen ließ. Zugleich scheinen die visuellen Künste seit dem 14. Jahrhundert ihre eigenen Zeugnisse gewaltsamer Bildsprache entwickelt zu haben. Der experimentelle Umgang mit bildlicher Gewalt könnte daher, so eine These der Forschergruppe, den zeitgenössischen textlichen und außertextlichen Begriff von Gewalt und Aggression auch als soziales und ethisches Problem mit religiöser wie säkularer Bedeutung erscheinen lassen.

Im Rahmen des Forschungsprojekts entstehen vier Teilstudien: Prof. Pinkus konzentriert sich auf den 50 Reliefs umfassenden Zyklus in St. Theobald in Thann sowie den 20 Episoden zeigenden Zyklus im Münster von Ulm und wird mit Blick auf die mittelhochdeutschen Legenden versuchen darzulegen, dass die bildlich dargestellten Exekutionen der Märtyrer weniger mit dem religiösen Vorbild als vielmehr mit zeitgenössischen Vorstellungen zu erklären sind. Prof. Büchsel beschäftigt sich mit der Entwicklung der Darstellung von Gefühlen in der Kunst: Anhand von Beispielen aus Reims und Naumburg möchte er nachzeichnen, welche Strukturen des Zeigens von Gewalt bei den zwischen 1250 und 1400 entstandenen Skulpturen festzustellen sind. In einem weiteren Teilprojekt wird sich Gili Shalom den als Bühnenszene gestalteten 24 Reliefs mit Märtyrerszenen am Südportal der Kathedrale von Chartres (ca. 1220) widmen. Volker Hille wird im Rahmen seines Dissertationsvorhabens unter anderem am Beispiel von Wandmalereien im ehemaligen Dominikanerkloster in Konstanz (ca. 1300 bis 1315) künstlerische Beziehungen zwischen der Darstellung der Passion Christi und den Heiligenmartyrien untersuchen. Die Ergebnisse aller vier Teilprojekte sollen in einer übergreifenden Studie zur Darstellung von Gewalt in der spätmittelalterlichen Kunst im deutschen Sprachraum zusammengefasst werden.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Forschungsprojekt durch die Gewährung von zwei Stipendien für die Projektbearbeiter Gili Shalom und Volker Hille sowie mit Fördermitteln zur Übernahme von Reise- und Sachkosten und zur Organisation von Workshops.

Projektleitung

Prof. Dr. Assaf Pinkus
Tel Aviv University, The Yolanda and David Katz
Faculty of the Arts, Department of Art History

Prof. Dr. Martin Büchsel
Goethe-Universität Frankfurt am Main,
Kunstgeschichtliches Institut

Dieses Projekt wurde im März 2016 dokumentiert.