Dokumentation zu diesem Projekt

Die Ostslaven auf der Suche nach überregionalen Identitäten (vom Ende des 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts) im Kontext der modernen Nationenbildung

Einführung

Die Alte Rus‘ erscheint in frühen Chroniken als politisch und konfessionell homogenes Gemeinwesen unter der Herrschaft der Rjurikiden-Dynastie. Infolge des Mongolensturms fielen im 13. Jahrhundert Teile des Gebiets an das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen, andere gerieten unter die Herrschaft der Goldenen Horde. Das Fürstentum Galizien-Wolhynien bewahrte bis 1320 seine Unabhängigkeit, das Fürstentum Novgorod bis in die 1470er Jahre, bevor gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Länder der Alten Rus‘ im Wesentlichen in der „Litauer Rus“ und der „Moskauer Rus“ aufgingen. Mit dem Scheitern der Alten Rus‘ im 14. und 15. Jahrhundert endete auch die gemeinsame religiöse Organisation, und die Ostslawen suchten unterschiedliche Allianzen: Während sich das Moskauer Großfürstentum nach dem Fall von Byzanz als Schutzmacht der Orthodoxie betrachtete, gerieten andere Gebiete vornehmlich über Polen unter einen starken Einfluss der lateinischen Welt und übernahmen Züge der westeuropäischen Kultur. Im 19. Jahrhundert bildeten sich schließlich die modernen russischen, ukrainischen und belarussischen Nationen aus.

Vor dem Hintergrund intensiver Diskussionen über die Anfänge der jeweils eigenen Nation erfährt die Geschichte der Ukraine und Weißrusslands aktuell eine radikale Revision. Da das Thema zunehmend öffentlich geführte geschichtspolitische Debatten beherrscht, ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung wünschenswert, die sich in den Fachwissenschaften der beteiligten Länder hauptsächlich auf das Erbe der Alten Rus‘ konzentriert. Im Rahmen eines am Deutschen Historischen Institut Moskau angesiedelten Forschungsvorhabens soll die Geschichte frühmoderner Nationsvorstellungen bei den Ostslawen nun systematisch aufgearbeitet werden. Arbeitsgruppen aus Russland, der Ukraine, Weißrussland und Deutschland sowie assoziierte Wissenschaftler in Polen und Litauen gehen der bislang wenig erforschten Frage nach, ob die Ostslawen im Zuge der territorialen Zersplitterung der Alten Rus‘ und wechselnder Herrschaftskonstellationen in der Frühen Neuzeit überregionale Identitäten und Gemeinschaftsvorstellungen ausgebildet haben. Mittels vergleichender Studien soll geprüft werden, ob die Ostslawen bereits zwischen 1500 und 1750 Vorformen eines modernen Nationalbewusstseins und damit auch eigene frühmoderne nationale Mythologien entwickelten. Darüber hinaus soll danach gefragt werden, welche Rolle autochthone Vorstellungen auf der einen Seite und westliche humanistische Einflüsse und Vorbilder auf der anderen Seite spielten.

Grundlage für die Forschungsarbeiten bildet ein überaus reicher Fundus an gedruckten und archivalischen Quellen narrativen, historiographischen, publizistischen und rechtlichen Charakters sowie ethnographische und künstlerische Zeugnisse. Ziel des Projekts ist es, den grenzüberschreitenden Austausch zu fördern und in einer Kombination aus Einzelforschungen und gemeinsamen Studien eine breite Quellengrundlage zu erschließen, um „nationale“ Betrachtungsweisen zur Diskussion zu stellen. Die Ergebnisse sollen als gemeinschaftliche wissenschaftliche Leistung kenntlich gemacht werden und zur Fortsetzung eines sachlichen Dialogs über ein kontrovers diskutiertes Thema beitragen.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Forschungsprojekt durch die Gewährung von Stipendien für die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Ukraine sowie mit Fördermitteln zur Übernahme von Kosten für die Abschlusskonferenz an der Universität Warschau.

Projektleitung

Prof. Dr. Nikolaus Katzer, Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland. Deutsches Historisches Institut Moskau

Bildnachweise

Abb. 1–3: Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften, Hauptsammlung der Manuskripte, Chiffre 34.5.30

Dieses Projekt wurde im März 2017 dokumentiert.