Dokumentation zu diesem Projekt

Ein Zentaur in London. Lektüre und Beobachtung in der frühneuzeitlichen Naturforschung

Einführung

Als »Wissenschaftliche Revolution« wird die in der europäischen Frühen Neuzeit vollzogene Abkehr von der Buchgelehrsamkeit hin zur Empirie bezeichnet, die maßgeblich zum Entstehen der modernen Naturwissenschaften beitrug. Dieses Gründungsnarrativ der Moderne wird in der zeitgenössischen Wissenschaftsgeschichte jedoch zunehmend in Zweifel gezogen. Angesichts der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der einzelnen Fächer stellt sich die Frage, wie plötzlich und radikal der Wandel tatsächlich war und ob es sich dabei um ein einzelnes, kohärentes historisches Ereignis handelte. 

Dr. Fabian Krämer hat sich in seiner Dissertation mit dem Verhältnis von Lektüre und Beobachtung in der frühneuzeitlichen Naturforschung auseinandergesetzt und untersucht, ob diese zwei für die »alte Buchgelehrsamkeit « und die »neue Wissenschaft« zentralen Praktiken in den Augen der zeitgenössischen Akteure überhaupt einen Gegensatz darstellten. Als Fallstudie dienten ihm dabei die »Monstren«, ein zentraler Gegenstand der Naturforschung der Frühen Neuzeit. In naturkundlichen Texten finden sich auffallend ähnliche Bilder von Monstren, Berichte von monströsen Geburten und Aussagen allgemeiner oder theoretischer Natur über Monstren. Hatten diese einmal Eingang in den Diskurs gefunden, der sich mit seltenen oder außernatürlichen Dingen der Natur befasste, wurden sie von immer neuen Autoren verwendet. Phänomene wie die Geburt eines Fohlens mit Menschenkopf, der sagenumwobene Basilisk, dessen Blicke töten konnten, oder weit im Osten vermutete »monströse Menschenrassen« wurden auf diese Weise über Jahrhunderte hinweg tradiert. In deutlichem Kontrast dazu steht die »kritische« Sondierung gelehrter Überlieferung des 18. Jahrhunderts. »Aufgeklärte« Naturforscher äußerten große Zweifel an zahlreichen antiken wie auch zeitgenössischen Berichten, Bildern und Aussagen allgemeiner Natur über Phänomene, die zuvor als außernatürlich (praeter naturam) eingestuft worden waren. Sie lösten einzelne Bilder aus der Kategorie monstrum heraus und verbannten ganze Phänomengruppen ins Reich der »Fabeln«.

Dr. Krämer hat im Rahmen seiner Studie danach gefragt, woher europäische Naturkundige des späten 16. bis frühen 18. Jahrhunderts ihr Wissen über Monstren und andere seltene Naturerscheinungen bezogen und ob sie dabei das Buchwissen oder die empirische Beobachtung als besonders autoritativ ansahen. Basis für die Untersuchung waren zahlreiche bislang nicht oder kaum beachtete Quellen, darunter Dissertationen über Monster, die zwischen 1550 und 1750 vorwiegend an den protestantischen Universitäten des Heiligen Römischen Reiches entstanden, sowie das Pandechion epistemonicon, eine handschriftliche
Enzyklopädie des einflussreichen Naturhistorikers Ulisse Aldrovandi (1522–1605) aus Bologna. Indem er das Verhältnis zwischen Lesen und Beobachtung in der tatsächlichen Forschungspraxis durch Selbstauskünfte der entsprechenden Autoren und die Analyse von Entstehung und Zusammensetzung ihrer Werke rekonstruiert hat, gelang es Dr. Krämer nachzuweisen, dass das Lesen als Modus der Wissensproduktion mit dem Aufstieg der Beobachtung nicht an Bedeutung verlor. Die Lektürepraxis änderte sich allerdings ebenso substantiell und folgenschwer wie die Beobachtungspraxis. Für die Auseinandersetzung »aufgeklärter« Naturkundiger mit »Fabelwesen« war gerade die »kritische« Lektürepraxis zentraler als die Beobachtung. 

Die Dissertation wurde mit dem Nachwuchspreis der Georg-Agricola-Gesellschaft zur Förderung der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik e. V., dem Johann-Lorenz-Bauch-Förderpreis des Leopoldina Akademie Freundeskreises e. V. und dem Young Scholars Prize der Division of History of Science and Technology (DHST) der International Union of History and Philosophy of Science (IUHPS) ausgezeichnet.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützte das Dissertationsvorhaben durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums und stellte einen Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung der Dissertation zur Verfügung.

Publikation

Fabian Krämer, Ein Zentaur in London. Lektüre und Beobachtung in der frühneuzeitlichen Naturforschung, Affalterbach 2014 (= Kulturgeschichten. Studien zur Frühen Neuzeit, Bd. 1)

Dieses Projekt wurde im April 2015 dokumentiert.