Dokumentation zu diesem Projekt

Johann Sebastian Bachs Thomaner, 1723–1750 – Erschließung und Dokumentation musikgeschichtlicher Quellen

Einführung

Der Leipziger Thomanerchor gilt als einer der erfolgreichsten und ältesten Knabenchöre der Welt. Seine inzwischen 800-jährige Geschichte fand ihren unbestrittenen Höhepunkt in jenen 27 Jahren (1723–1750), in denen Johann Sebastian Bach dem Chor als Kantor vorstand. In Leipzig komponierte dieser seine über 200 Kirchenkantaten, seine beiden großen Passionen und das Weihnachtsoratorium – und die Thomaner schrieben mit der Erstaufführung dieser Werke ein Stück abendländischer Musikgeschichte. Über Bach selbst ist nur wenig bekannt. Neben einer geringen Zahl von Privatbriefen und Schriftstücken dienstlicher Natur liegen wenige zeitgenössische Berichte über sein Wirken als Komponist, Musiker und Musikpädagoge sowie über seine Persönlichkeit vor. Aussagen über die Aufnahme seiner Werke durch die Zeitgenossen fehlen fast gänzlich.

Zu den Zielen der Bach-Forschung gehört es daher, die Quellenbasis zu erweitern und das Fehlen bzw. den Verlust von Bachs Privatkorrespondenz durch aussagekräftige andere Dokumente zu kompensieren. Im Rahmen eines langfristig angelegten Feldforschungsprojekts bemüht sich das Bach-Archiv Leipzig seit 2002 um eine systematische Erschließung der städtischen und höfischen Archivalien sowie der Buch- und Musikalienbestände Mitteldeutschlands mit Blick auf unbekannte Materialien zur Musikerfamilie Bach, der Musizierpraxis ihrer Zeit und dem soziokulturellen Umfeld von Musikern im 17. und 18. Jahrhundert. Durch die verbesserten Nutzungsbedingungen und die fortschreitende elektronische Katalogisierung der vor der Wiedervereinigung nicht oder nur schwer zugänglichen reichen mitteldeutschen Archivbestände konnten in den vergangenen Jahren bereits sehr gute Erfolge erzielt werden. Im Jahr 2011 entdeckten die Wissenschaftler im Leipziger Stadtarchiv das lange verloren geglaubte Verzeichnis der Thomasschule, das eigenhändig eingetragene Kurzbiographien aller 650 Thomaner im Zeitraum zwischen 1729 und 1800 enthält.

Ziel des Forschungsprojekts

Ziel eines von Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Wolff (bis 31. Dezember 2013) und PD Dr. Peter Wollny geleiteten und von PD Dr. Michael Maul koordinierten Forschungsprojekts ist es, auf der Grundlage des Album Alumnorum Thomanorum systematisch die Lebenswege der insgesamt 325 Thomasschüler auszuwerten, die während Bachs Kantorat das Internat der Schule besuchten. Die Thomaner waren sowohl die besten Kenner von Bachs Musizier- und Unterrichtspraxis als auch die ersten Kopisten, Interpreten und Rezipienten seiner Werke. Viele von ihnen waren später selbst als Musiker tätig und wandten ihr in Leipzig erworbenes Wissen in ihrem eigenen Wirkungskreis an. Ihre Aufzeichnungen sind daher für die Bach-Forschung vielfältig relevant. Gut dokumentiert sind auch die Lebensläufe jener Thomaner, die nach Abschluss ihrer Schulzeit ein Theologiestudium in Leipzig aufnahmen und später in den Städten und Dörfern Sachsens und Thüringens dem Beruf des Pfarrers nachgingen. Die Akten zur Besetzung von Pfarrerstellen enthalten oft handschriftliche Lebensläufe, in denen ehemalige Thomaner über ihre Schulzeit und ihren Unterricht berichten. Die Projektgruppe geht Spuren in Archiven an rund 300 Orten in Mitteldeutschland nach und fand dabei zahlreiche Dokumente, die das Leben und die Unterrichtsprinzipien an der Thomasschule erhellen.

Zu den wichtigen im Verlauf der Arbeiten neu aufgefundenen Quelle zählt auch das Freundschaftsalbum von Johann Christian Heuckenrott, Alumnus der Thomasschule und Pfarrer in Frankleben, dessen 174 Einträge neue Einblicke in die humanistische und künstlerische Ausbildung und das soziokulturelle Umfeld an der Thomasschule erlauben. Als musikhistorische Sensation galt im Berichtsjahr der Fund eines Bach-Autographs in Weißenfels: Die um 1740 entstandene Abschrift einer Messe des italienischen Komponisten Francesco Gasparini bietet wesentliche Einblicke in Bachs Beschäftigung mit dem so genannten Stile antico und hilft, die stilistische Neuorientierung seines Schaffens in seinem letzten Lebensjahrzehnt zu verstehen. Ein im Pfarrarchiv der mittelsächsischen Stadt Döbeln entdeckter Brief legt die Erkenntnis nahe, dass Bach sich in den 1740er Jahren weitestgehend von seinen Aufgaben als Kantor und Leiter der Kirchenmusik zurückgezogen hat und zeitweise von einem seiner ehemaligen Schüler vertreten wurde.

Im Rahmen des Projekts entstehen am Bach-Archiv zwei Dissertationen, deren Bearbeiter sich auf unterschiedliche Weise dem musikhistorisch bedeutsamen Wirken einzelner Bach-Thomaner widmen. Während Bernd Koska das vielfältige kirchenmusikalische Schaffen dieser Musiker untersucht, geht Manuel Bärwald in seiner inzwischen eingereichten Dissertation der Bedeutung der Bach-Thomaner für die Entstehung einer bürgerlichen Konzertkultur im Leipzig der 1740/50er Jahr nach. Übergeordnetes Ziel der Projektgruppe ist es darüber hinaus, einen möglichst vollständigen Datensatz an Schriftproben aller Bach-Thomaner zusammenzutragen, da diese Rückschlüsse auf die Datierung vieler Werke des Komponisten erlauben.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Forschungsprojekt seit 2011 durch die Gewährung von zwei Promotionsstipendien für die wissenschaftlichen Bearbeiter Manuel Bärwald und Bernd Koska sowie die Übernahme von Reise- und Sachkosten und hat im Berichtsjahr Fördermittel für eine einjährige Verlängerung des Projekts zugesagt.

Das Projekt im Film

Dieses Forschungsvorhaben ist Teil von L.I.S.A.video, dem auf L.I.S.A - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung verankerten Filmprojekt.

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Dieses Projekt wurde im April 2014 dokumentiert.