Einführung
Dr. Maxi Schreiber hat in ihrer Dissertation die Rezeption altägyptischer Baukunst in der Architektur der Moderne in Deutschland untersucht und gezeigt, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Wendepunkt in der Wahrnehmung einsetzte. Die pharaonische Baukunst war zwar bereits seit der Antike Gegenstand der Rezeption in der Architektur und im Kunstgewerbe: An Bauwerken und Denkmälern, in der Innen-, der Park- und Gartenarchitektur wurden Elemente aus Gräbern und Tempeln des alten Ägypten verwendet, beispielsweise Pyramide, Sphinx, Obelisk, Pylon und Säulenformen. Erst die Architekten der Moderne aber interessierten sich für Wesen und Wirkung dieser Architektur und ließen sich von ihr bei der Entwicklung neuer Formen inspirieren. Nicht die kleinteiligen Motive, sondern die klare, reduzierte Sprache der altägyptischen Baukunst sowie ihre äußerliche Kompaktheit und Flächenbündigkeit rückten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Ausgelöst wurde das Interesse an pharaonischen Bauwerken durch archäologische Entdeckungen und das Anschauungsmaterial in ägyptologischen und kunsthistorischen Publikationen.
Ausgehend von der theoretischen Auseinandersetzung mit der altägyptischen Bauweise in Architekturzeitschriften, Nachlässen von Architekten, den Publikationen archäologischer Grabungen sowie der ägyptologischen Literatur verfolgt Dr. Schreiber anhand von Fallbeispielen, wie dieser Prozess zu neuen, eigenständigen Lösungen in der Baupraxis jener Zeit führte. Der heute in wesentlichen Teilen abgetragene, in den Jahren 1914 bis 1928 nach Plänen von Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer erbaute Hauptbahnhof in Stuttgart war in der Klarheit der Gliederung, den einfachen Formen und der Monumentalität wesentlich von einer Reise Bonatz‘ nach Ägypten kurz vor Baubeginn beeinflusst. 1925/1926 konzipierte Wilhelm Kreis in Düsseldorf anlässlich der GESOLEI-Ausstellung den Ehrenhof und die ihn umgebenden Museumsbauten, an denen sich eine eigenständige Interpretation altägyptischer Architekturelemente wie des Pylons oder einer Betonung der Sockelzone durch eine starke Böschung ausmachen lässt.
Die Architektur der Moderne, so ein zentrales Ergebnis der Dissertation, war keineswegs so „geschichtslos“, wie in vielen Rezeptionsstudien bislang angenommen; sie wurde vielmehr im Prozess ihres Entstehens maßgeblich von der altägyptischen Baukunst inspiriert. Anstatt die Moderne als Bewegung zu sehen, die die Vergangenheit kategorisch ablehnte, gelingt es Dr. Schreiber zu zeigen, dass die Architekten einen neuen Zugang zur pharaonischen Architektur und Gemeinsamkeiten mit den eigenen Ideen suchten. Einer oftmals einseitigen Auslegung der Ägyptenrezeption in der Moderne als Vorgeschichte nationalsozialistischer Monumentalbauten setzt sie die These entgegen, dass die Epoche zwischen 1900 und 1933 als Teil des Reflexionsprozesses über eine neue Formensprache der Moderne zu betrachten ist.