Dokumentation zu diesem Projekt

Willy Brandt und Günter Grass. Der Briefwechsel

Einführung

Im Mittelpunkt eines Forschungsvorhabens von Dr. Martin Kölbel stand der zu den bedeutenden Dokumenten der jüngeren Zeitgeschichte zählende Briefwechsel zwischen Willy Brandt und Günter Grass, der 1964 begann und bis zu Brandts Tod im Jahr 1992 andauerte. Beide durchliefen in ihrer fast drei Jahrzehnte andauernden Korrespondenz das Wechselbad der großen Politik und fanden zögerlich, über Euphorien und Zerwürfnisse hinweg, zu einer bemerkenswerten Freundschaft. 288 Briefe, Karten und Telegramme sind im Günter-Grass-Archiv der Akademie der Künste (Berlin) und im Willy Brandt-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn) überliefert – in der Summe 500 Blatt, von denen 390 von Günter Grass stammen. Ziel des Projekts war es, die Korrespondenz zwischen dem Politiker und dem Schriftsteller erstmals vollständig in einer kommentierten Edition vorzulegen.

Als Willy Brandt 1961 dreißig Schriftsteller nach Bonn einlud, um sie für den Bundestagswahlkampf der SPD zu gewinnen, fehlte Günter Grass zunächst, da der Bestsellerautor, so ging das Gerücht, nicht für Politik zu haben sei. Auf den verzögerten Start folgte eine Liaison von Geist und Macht, die ihresgleichen sucht: Der Schriftsteller stieg in den tagespolitischen Nahkampf ein und erprobte eine freigeistige Beteiligung an der Partei- und Regierungsarbeit. Grass wirkte als treibende Kraft der Sozialdemokratischen Wählerinitiative (SWI), eines Netzwerks politisierter Bürger, das für die SPD Wahlhilfe leistete und deren Programmatik mitbestimmen wollte. Seine Prominenz und mediale Präsenz gab den Initiativen öffentliches Gewicht, provozierte zum Teil aber auch heftige Kontroversen. Der SPD-Vorsitzende und spätere Bundeskanzler fasste ein vitales Interesse an der kritischen Dreinrede des Schriftstellers und förderte nachdrücklich die parteilose Wählerinitiative. Günter Grass leistete dem Politiker zudem Formulierungshilfen, die Schlüsselereignissen wie der Regierungserklärung von 1969 oder dem Kniefall in Warschau von 1970 ihr sprachliches Gepräge gaben. Brandt holte sich für wichtige Anlässe verstärkt Rat bei öffentlichen Personen und formte aus deren Vorschlägen und Entwürfen seine Reden, die dadurch eine eigene, innere Mehrstimmigkeit erhielten. Dank des Briefwechsels lässt sich nun erstmals Grass‘ Anteil an dieser besonderen Art politischer Sprachfindung rekonstruieren.

Ergebnisse

Die intensivste Phase der Korrespondenz lag zwischen 1968 und 1974, mit der gemeinsamen Warschau-Reise und Brandts Rücktritt als emotionalem Höhe- bzw. Tiefpunkt. Die Dokumente erlauben eine veränderte Perspektive auf zahlreiche Vorkommnisse, die die Bundesrepublik geprägt haben: die Große Koalition, das Nachwirken der NS-Zeit, die 68er Bewegung, Brandts Friedenspolitik und Bundeskanzlerschaft, die innere Befindlichkeit der SPD, die RAF, die Friedensbewegung und den Weg zur deutschen Einheit. Mit den Briefen und ihrer Kommentierung wird eine bedeutende Quelle zur politischen Geschichte der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zugänglich gemacht, die zu neuen Erkenntnissen über die zweite, intellektuelle Gründung der Bundesrepublik verhilft. Der Briefwechsel ist zudem Folge und Zeugnis eines fundamentalen Wandels der politischen Kultur: Über die Jahrzehnte schwand die Dominanz von Wort und Rede zugunsten von Bild und medialem Event.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung hat das Projekt durch die Gewährung eines Forschungsstipendiums und die Übernahme von Reise- und Sachkosten unterstützt.

Pubilkation

Die im Berichtsjahr im Steidl Verlag, Göttingen, erschienene Edition umfasst neben allen überlieferten Briefen und Briefbeigaben 99 größtenteils unpublizierte Zusatzdokumente, ausführliche Stellenkommentare, zahlreiche Abbildungen sowie einen einordnenden Essay des Herausgebers:

Martin Kölbel (Hg.): Willy Brandt und Günter Grass. Der Briefwechsel, Göttingen 2013

Dieses Projekt wurde im April 2014 dokumentiert.