Documentation of this project

Kulturen der Intelligence: Ein Forschungsprojekt zur Geschichte der militärischen Nachrichtendienste in Deutschland, Großbritannien und den USA, 1900–1947

Einführung

Der zunehmende Nationalismus sowie der gesellschaftliche und technische Wandel veränderten seit dem späten 19. Jahrhundert grundlegend nicht nur die Formen der Kriegsführung, sondern auch das System der internationalen Beziehungen. In Europa und in den USA initiierte dies einen Prozess der Professionalisierung, Technisierung und Verwissenschaftlichung der militärischen Nachrichtendienste und des von ihnen betriebenen Erfassens, Sammelns und Auswertens von Informationen. Großbritannien und die USA waren die ersten demokratischen Länder, in denen eine moderne Nachrichtendienststruktur entstand und deren Gesellschaften einen öffentlichen Diskurs über Military Intelligence führten. Das Deutsche Reich hatte abweichende militärische Traditionen und war später als nationalsozialistische Diktatur vollkommen anders geprägt.

Im Mittelpunkt eines Forschungsprojekts unter der Leitung von Prof. Dr. Sönke Neitzel, Prof. Dr. Philipp Gassert und Prof. Dr. Andreas Gestrich steht die Entwicklung der militärischen Nachrichtendienste in Deutschland, Großbritannien und den USA ausgehend von den Anfängen einer modernen Nachrichtendienststruktur Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Höhe- und Endpunkt einer ersten Entwicklungsphase moderner Nachrichtendienste. Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich im Zusammenspiel nationaler Geheimdiensttraditionen, jeweiliger kultureller Repräsentationen der Geheimdienste in Literatur und Medien sowie der Praxis nachrichtendienstlicher Arbeit nationale Intelligence-Kulturen herausbildeten. Unter einer »Kultur der Nachrichtendienste« werden dabei spezifische Formen der Organisation, Struktur und Zielsetzungen der Dienste sowie ihrer strategischen, operativen und taktischen Arbeit verstanden, die in innergesellschaftlichen Diskursen ausgehandelt werden. Die Aktivitäten der Nachrichtendienste werden nicht nur als Produkte militärischer Zwecküberlegungen analysiert, sondern sollen im Kontext mit gesellschaftlichen Diskursen betrachtet werden. Dabei soll erstmals auch danach gefragt werden, inwiefern und in welchen Bereichen es national übergreifende Muster geheimdienstlicher Diskurse und Praktiken gab, beispielsweise als Folge transnationaler Interaktion bzw. wechselseitiger Wahrnehmung.

In einer ersten Projektphase untersuchen drei Doktoranden den öffentlichen Diskurs über die Geheimdienste in Deutschland, Großbritannien und den USA in den Massenmedien, der zeitgenössischen Populärkultur (spy novels) und der Militärpublizistik. Leitfragen beziehen sich auf den Stellenwert der Geheimdienste in Gesellschaft und Militär, Personifizierungen im Kontext von Expertenkulturen sowie die jeweiligen Erkenntnisinteressen, Informationsquellen und Methoden. Auf der Grundlage der dabei erzielten Forschungsergebnisse möchten die Projektleiter in einer zweiten Phase die Wechselwirkungen zwischen Öffentlichkeit und nachrichtendienstlicher Praxis vergleichend erarbeiten und überprüfen, inwieweit sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spezifische Intelligence-Kulturen herausgebildet haben. Am Beispiel der Military Intelligence sollen Wechselwirkungen zwischen Militär, Verwaltung, Staat und Gesellschaft sowie die Bedeutung der damit einhergehenden Weltbilder und Deutungen aufgezeigt werden. Der internationale Vergleich soll helfen zu verstehen, wie sich die Diskurse in Teilen der Gesellschaft und Fachkreisen auf der einen Seite und die geheimdienstliche Praxis auf der anderen Seite national spezifisch entwickelten und wie zugleich durch transnationale Interaktion national übergreifende Muster entstanden.

Ziel des Forschungsprojekts ist es, die erste komparative Kulturgeschichte der militärischen Nachrichtendienste vorzulegen, in der die Entwicklung der Intelligence systematisch in ihre bislang vernachlässigten soziokulturellen Kontexte eingebettet wird. An der Schnittstelle von Militär-, Diplomatie-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte soll die Tragweite kulturgeschichtlicher Ansätze und Fragestellungen für die historische Erforschung von Geheimdiensten und militärischen Organisationen exemplarisch erprobt werden. Umgekehrt werden am Beispiel der Military Intelligence die konkreten Beziehungen zwischen kulturellen Repräsentationen, Deutungen und Wahrnehmungsmustern einerseits und individueller, lokaler und institutionalisierter Praxis andererseits untersucht. Die zu erwartenden Ergebnisse versprechen darüber hinaus, einem bisher überwiegend von Institutionen- und politikgeschichtlichen Ansätzen geprägten Forschungsfeld neue Impulse zu verleihen.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Forschungsprojekt durch die Gewährung von drei Promotionsstipendien für Doktoranden in Deutschland, Großbritannien und den USA sowie die Übernahme von Personal-, Reiseund Sachkosten.

Projektleitung

Prof. Dr. Sönke Neitzel
London School of Economics and Political Science

Prof. Dr. Philipp Gassert
Universität Augsburg, Lehrstuhl für Geschichte des europäisch-transatlantischen Kulturraums

Prof. Dr. Andreas Gestrich
Deutsches Historisches Institut London

Das Projekt im Film

Dieses Forschungsvorhaben ist Teil von L.I.S.A.video, dem auf L.I.S.A - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung verankerten Filmprojekt.

Klicken Sie hier, um direkt zu L.I.S.A.video zu gelangen. Wenn Sie regelmäßig per E-Mail über neue Beiträge im Portal informiert werden möchten, können Sie gerne den Newsletter der Online-Redaktion abonnieren.

For an English version, please click here.

Dieses Projekt wurde im März 2013 dokumentiert.