Dokumentation zu diesem Projekt

»Wissendes Nichtwissen« oder »gutes Wissen«?

Einführung

Nicolaus Cusanus (1401– 464) stand in antiken und abendländischen Denktraditionen, deren Ursprung unter anderem von Platon, vorsokratischen Strömungen und weiteren, insbesondere neoplatonischen Ausgangspunkten begründet wird. Vor diesem Hintergrund entwickelte Cusanus einen eigenständigen, innovativen und integrativen Denkweg. Er suchte als erster den philosophischen Dialog mit dem Islam und sprach sich für eine weltweite Toleranz der Religionen aus. Seine naturwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Thesen waren teilweise zukunftsweisend: Cusanus erkannte die Unendlichkeit des Weltalls sowie die Dezentralität des Sonnensystems und machte sich Gedanken zur Experimentalwissenschaft.

Auch auf politischem, rechtswissenschaftlichem und diplomatischem Gebiet leistete er mit seinen Reflexionen zum »wissenden Nichtwissen« (docta ignorantia) als selbstreflexive Rückführung aller kognitiven Tätigkeit des »Geistes« (mens) Bahnbrechendes. Wang Yangming (1472–1529) war der wichtigste chinesische Philosoph der Ming-Dynastie (1368–1644) und vereinte in seiner philosophischen Praxis verschiedene Elemente chinesischer Denkgeschichte zu einer neuen Methode. Seine Überlegungen zum »guten Wissen« (liang zhi) wurden der Anknüpfungspunkt für die ostasiatische Moderne ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, und auch aktuell wird Wang Yangming sowohl im (sino)philosophischen Diskurs in den USA als auch in der Volksrepublik China umfassend rezipiert. Außer als Philosoph gilt Wang Yangming unter anderem als äußerst versierter Stratege, Politiker, Pädagoge, Ausnahmedichter, General, bedeutender Kalligraph, Experte in daoistischer Lebenspflege und Meister im Bogenschießen.

Das zentrale Anliegen Nicolaus Cusanus’ und Wang Yangmings bestand darin, ihre Schüler in eine transformierende und integrale Selbstreflexion zu führen. Als wichtige Vordenker der europäischen bzw. chinesischen Moderne entwickelten beide Philosophen umfassende Logiken der Selbsterschließung und wandten sich dabei auf transkulturell vergleichbare Weise jeweils acht Problemhorizonten zu: umfassende Kreativität, menschliche Selbstreflexivität (»Bewusstheit«), (somatische und gedankliche) Generativität, Ineffabilität des kreativen Grundes der Sprache, Möglichkeiten und Grenzen dessen, was jeweils mit Wissen gemeint ist, Selbstperfektion, Gewissen und Moralität sowie allgemeine Liebe. Die philosophischen Texte beider Denker sind in diesem Sinne Zeugnisse lebenslanger intensiver Bemühungen und immer weiterentwickelter Reflexionen zu den meisten fundamentalen Problemen des menschlichen Lebens.

Dr. David Bartosch hat in seiner Dissertation die Konzentrate abendländischer und chinesischer Philosophiekultur bei Nicolaus Cusanus und Wang Yangming erstmals vergleichend untersucht. Dabei hat er zum einen den Blick auf die inhaltlichen Unterschiede beider Philosophien sowie die verschiedenen denkgeschichtlichen Kontexte gerichtet und zum anderen transkulturell verbindliche Gemeinsamkeiten und Affinitäten herausgearbeitet. So ergeben sich beispielsweise Unterschiede hinsichtlich der Frage, wie menschliche Selbstreflexivität begrifflich rekonstruiert wird: Die Begriffe mens (»Geist«) bei Cusanus und xin (»Herzgeist«) bei Wang Yangming bedeuten nicht dasselbe und sind unterschiedlich eingebettet. Andererseits betreffen die entsprechenden Reflexionen aber dasselbe philosophische Grundproblem einer Rekonstruktion der Art und Weise menschlicher Bewusstheit, und beide greifen in vergleichbarer Weise auf gleichlautende Grundmetaphern, beispielsweise das Bild des Spiegels, zurück.

Dr. Bartoschs Studie zeigt, dass und vor allem wie es möglich ist, die bewusstseinsgeschichtlichen Ebenen europäischer und chinesischer Kultur mit hoher wissenschaftlicher Rentabilität zu verbinden. Vor allem die Außenperspektive, so ein Ergebnis der Forschungen, ist sowohl für den intrakulturellen Diskurs zur Philosophiegeschichte als auch für die separaten Forschungsdiskussionen zum traditionellen chinesischen Denken hoch relevant. Die Monographie ist im Berichtsjahr im Verlag Wilhelm Fink, Paderborn, erschienen: David Bartosch, »Wissendes Nichtwissen« oder »gutes Wissen«? Zum philosophischen Denken von Nicolaus Cusanus und Wáng Yángmíng, Paderborn 2015.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützte das Projekt durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums sowie die Übernahme von Reise- und Sachkosten und hat einen Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung der Dissertation zur Verfügung gestellt.

Stipendiat

Dr. David Bartosch, Oldenburg

Dieses Projekt wurde im März 2016 dokumentiert.