Dokumentation dieses Projektes

Zwischen islamischem Fundamentalismus und islamischer Emanzipation – Positionen muslimischer Schlüsselfiguren des 20. und 21. Jahrhunderts

Einführung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in islamisch geprägten Gesellschaften zahlreiche Umbrüche, die aus westlicher Perspektive meist nur in verkürzter Form wahrgenommen werden. Das Ende der Kolonialzeit brachte dabei zwar Einschnitte und gesellschaftliche Veränderungen mit sich, markierte aber nicht immer einen radikalen Neubeginn und führte häufiger zu einem Nebeneinander unterschiedlicher gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Die Lebensentwürfe in der so genannten »islamischen Welt« sind heterogen und unterscheiden sich beträchtlich hinsichtlich ihrer sozialen Ordnungen. Um die Lebenswelten von Muslimen zu untersuchen, bedarf es zum einen sozialwissenschaftlicher Analysen. Zum anderen können Gesellschaftsentwürfe einzelner Vordenker eine nicht zu unterschätzende politische Dynamik entwickeln, die bisweilen zu revolutionären Veränderungen in den Regionen bzw. Nationalstaaten führt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts unter Leitung von Prof. Dr. Stephan Conermann sollen die Positionen von drei muslimischen Schlüsselfiguren des 20. und 21. Jahrhunderts im Rahmen von Einzelstudien dargestellt werden. Im Mittelpunkt stehen drei Persönlichkeiten, die eine große Bandbreite moderner muslimischer intellektueller Positionen repräsentieren.

Verena Ricken beschäftigt sich mit dem tunesischen Gelehrten Rašid al-Ghannuši (geb. 1941) und seinem Konzept der islamischen Demokratie unter besonderer Berücksichtigung der von ihm vertretenen Ideologie. Ziel ist es, Ghannušis Argumentationsstrukturen offenzulegen und bei der Analyse seiner Weltanschauung sowohl auf eine eventuelle Rezeption europäischer Theorien als auch auf seine Position in der innerarabischen Debatte einzugehen. Untersuchungsgegenstand sind drei Schlüsseltexte Ghannušis, in denen er sich mit Freiheit, Menschenrechten und Zivilgesellschaft auseinandersetzt.

Im Zentrum des Dissertationsvorhabens von Fabian Falter stehen das intellektuelle Werk und die sozialen Aktivitäten von Ashgar Ali Engineer (1939–2013). Engineer gilt als einer der bekanntesten muslimischen Intellektuellen des postkolonialen Indien und Vertreter der indisch-säkularen Variante des Islam, die den besonderen Umständen nicht arabischer asiatischer Staaten Rechnung zu tragen versucht. Obwohl Engineer sein Anliegen in vielen Ländern im Rahmen von Vorträgen vertrat und zudem 2004 den »Alternativen Nobelpreis« (Right Livelihood Award) erhielt, wird sein umfangreiches Werk in der internationalen Wissenschaftsgemeinde vergleichsweise wenig wahrgenommen.

Sarah Spiegel widmet sich in ihrem Dissertationsvorhaben dem wissenschaftlich bislang kaum beachteten Spätwerk der ägyptischen Muslimschwester Zaynab al-Ghazali (1917–2005), die als eine der wenigen Frauen eine zentrale Position innerhalb der streng hierarchisch organisierten größten sunnitisch-islamistischen Bewegung im Nahen Osten einnimmt. Nach der Zerschlagung der Muslimbruderschaft durch die Regierung Nasser im Jahre 1954 trug das von Zaynab al-Ghazali geleitete Netzwerk im Untergrund maßgeblich zum Überleben der Organisation bei. Als Journalistin, Schriftstellerin und Predigerin beteiligte sich Zaynab al-Ghazali an innerislamischen Debatten über Fragen der Geschlechterbeziehung und die Interpretation weiblicher Lebensmodelle.

Ziel des Forschungsvorhabens ist es, die Haltungen der drei Protagonisten als Teil eines sehr ausdifferenzierten muslimischen Diskurses zu verstehen, der sich einfügt in die im Zeitalter der Globalität durchaus akzeptierten multiplen Modernitäten. Im Rahmen von zwei Workshops wird sich die Projektgruppe darüber hinaus zum einen mit zeitgenössischen muslimischen Intellektuellen aus der nicht arabischen Welt befassen und zum anderen den Versuch unternehmen, angesichts der zahlreichen in den letzten Jahrzehnten vorgebrachten neuen Positionen eine Typologie gesellschaftlicher Ordnungsmodelle zu erstellen.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Forschungsprojekt durch die Gewährung von drei Promotionsstipendien für die Projektmitarbeiter Verena Ricken, Fabian Falter und Sarah Spiegel sowie mit Fördermitteln zur Übernahme von Kosten für zwei Workshops.

Dieses Projekt wurde im April 2015 dokumentiert.