Dokumentation zu diesem Projekt

Sport und Moderne in der arabischen Welt der Kolonialzeit: Algerien 1910–1962

Einführung

Jakob Krais untersucht am Beispiel des modernen Sports Vorstellungen von Modernität sowie die Entwicklung von Nationsideen und islamischen Gesellschaftsentwürfen im Algerien der Kolonialzeit. Der Untersuchungszeitraum beginnt mit der Bildung einheimischer Sportvereine um 1910 und endet mit der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962. Das Land stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits seit mehreren Generationen unter französischer Herrschaft, und auch die südlichen Territorien in der Sahara waren in die Kolonialverwaltung integriert. Um 1910 entstanden in verschiedenen Orten Algeriens erste einheimische Sportvereine, die sich explizit als Clubs für Muslime gründeten. In den 1930er Jahren entwickelte sich eine eigene muslimische Pfadfinderbewegung (al Kaššāfa al-islāmīya al-ğazā’irīya / Scouts Musulmans Algériens), und die Strukturen des Pfadfindertums wurden zu einer Art Grundgerüst für die nationalistische Bewegung, die sich schließlich in der Ğabhat at-tahrīr al watanī / Front de Libération Nationale (FLN) organisierte. Während des Algerienkriegs nutzte der FLN bei seinen diplomatischen Bemühungen auf internationaler Ebene auch den Fußball und bildete schon vor der Unabhängigkeit eine algerische Nationalmannschaft, die zum Großteil aus Profis bestand, die zuvor in Frankreich gespielt hatten.

Die einheimischen Sportclubs und Pfadfindergruppen ergänzten bereits bestehende Gründungen der europäischstämmigen Bevölkerung. Neben den im Bereich des Sports sehr aktiven katholischen Organisationen, die sich in Missionsschulen und ordensverbundenen patronages engagierten, nahm auch der Staat die Leibeserziehung in das Programm seiner Schulen auf. Der Kolonialstaat setzte darüber hinaus große Sportfeste ein, um die Integration Algeriens und der anderen nordafrikanischen Kolonien in das »größere Frankreich« zu demonstrieren, beispielsweise im Rahmen der Hundertjahrfeier der Eroberung 1930 oder von Veranstaltungen des Vichy-Regimes 1941 / 1942. Im Bereich des Breitensports spiegelten die Vereine häufig die jeweilige Herkunft der französischen Siedler wider, die ursprünglich aus Spanien, Italien oder Malta eingewandert waren. Demgegenüber führten die einheimischen Sportteams oft die muslimische Identität im Namen, wohl auch um eine arabisch-berberische Einheit zu suggerieren, die von kolonialer Seite nicht selten infrage gestellt wurde. Durch diese Konstellation wurden Wettbewerbe von Vereinen oft mit nationalistischer Bedeutung aufgeladen. Dabei wurde die Gründung von Vereinen und Pfadfindergruppen auf »muslimischer« Seite sowohl von eher nationalistischen als auch von islamistischen Bewegungen vorangetrieben, und schließlich kam es gar zur Spaltung. Innerhalb der islamisch-reformistischen Strömung war die Etablierung von Vereinen und Privatschulen ein zentrales Mittel für die angestrebte Gesellschaftsreform, und insbesondere in der Zeit nach dem für Algerien und Frankreich insgesamt mit sehr hohen Verlusten verbundenen Ersten Weltkrieg entwickelte sich physische Kraft zu einem Topos der gesellschaftlichen Debatte.

Im Mittelpunkt der geplanten Untersuchung steht die Frage, wie der moderne Sport Eingang in die algerische Gesellschaft fand und welche Rolle er für die neuen sozialen und politischen Bewegungen spielte, die sich auf die entstehende Mittelschicht stützten. Herr Krais geht dabei von der These aus, dass die verschiedenen Reformansätze, die sich in der Kolonialsituation mit einer zunächst als westlich angenommenen Moderne auseinandersetzten, in erster Linie eine Selbststärkung anstrebten, für die körperliche Ertüchtigung zentral war. Der moderne Sport lieferte den Kolonisierten neue Möglichkeiten, ihre Handlungsmacht im Alltag etwa durch Erfolge einheimischer Sportler gegen europäische Gegner unter Beweis zu stellen, die dazu beitragen konnten, gängige Stereotype von Unterlegenheit zu relativieren. Weitere Leitfragen erstrecken sich unter anderem auf die Definition von Modernität im Alltag, aufkommende Ideen von der Nation sowie Debatten über Geschlechterverhältnisse und Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit. Herr Krais stützt seine Untersuchung auf autobiographische Schriften, die zeitgenössische Presse sowie koloniale Dokumente und Publikationen und wird vergleichend auch Studien zu Ägypten und dem arabischen Osten mit einbeziehen.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Projekt durch die Gewährung eines Forschungsstipendiums sowie die Übernahme von Reise- und Sachkosten.

Stipendiat

Jakob Krais, Berlin

Dieses Projekt wurde im März 2016 dokumentiert.