1438 wollte Gerhard von Kleve, Graf zur Mark (1430-1461), eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternehmen. Seine Reiseroute führte von der Grafschaft Mark im heutigen Nordrhein-Westfalen über die Hansestädte nach Preußen, Livland und Russland. Die Reise wurde gut vorbereitet, und Graf Gerhard hatte ein Empfehlungsschreiben des Hochmeisters des Deutschen Ordens an den russischen Fürsten in Novgorod im Gepäck. In Novgorod angekommen wurde zu seiner Überraschung sein Dolmetscher Hermann tor Koken in Jamburg im Novgoroder Watland zuerst eingekerkert und anschließend ermordet. Der Zwischenfall führte zu einer schweren diplomatischen Krise und sogar zum offenen Krieg (1443-1448) des Deutschen Ordens und der livländischen Städte gegen Novgorod. Der Graf kehrte unverrichteter Dinge um. Diese sogenannte „Krise um den Grafen Gerhard“ ist in narrativen Quellen sowie in Briefwechseln ausführlich dokumentiert und entsprechend oft untersucht worden. Aber wieso wollte der Graf überhaupt nach Novgorod reisen, wenn sein Ziel das Heilige Land war?
Diese Frage stellt der Historiker Prof. Dr. Aleksey Martyniouk und vermutet, dass die Wurzeln der ungewöhnlichen Reiseroute des Grafen Gerhard in der Tradition eines dauernden „Ostinteresses“ seiner Familie zu suchen sind. Genauer: in der wiederholten Teilnahme der Herren der Grafschaft Mark an den Kreuzzügen gegen die „litauischen Heiden und russischen Schismatiker“ im Ostseeraum zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert. Bereits der Onkel Graf Gerhards, Engelbert III. von der Mark (1346-1391), war auf Kreuzzug in Preußen und Livland gewesen, wo er unter anderem 1381 an der Belagerung der „Heidenstadt Plosko“ (Polozk im heutigen Belarus) teilnahm. Ein Jahrhundert zuvor war Graf Engelbert I. als Kreuzritter in Preußen, und 1330 nahm ein namentlich nicht genannter Graf von der Mark am Krieg des Deutschen Ordens gegen Litauen teil. Trotz dieser kriegerischen Auseinandersetzungen sind zumindest für Gerhard und Engelbert III. auch geistliche Pilgerreisen nach Osteuropa belegt.