Dokumentation zu diesem Projekt

Sicherheit als Siebter Sinn. Verkehrserziehung in (West-)Deutschland 1900–1992

„Augen auf im Straßenverkehr“ heißt es im Kinderlied und „Runter vom Gas!“ auf Autobahnplakaten. Bis heute begleiten Maßnahmen der Verkehrserziehung die Menschen von der Wiege an, um sie zu befähigen, den Unsicherheiten des sich verdichtenden Straßenverkehrs kompetent zu begegnen. Doch welche Kompetenzen sind das eigentlich? Auf welche Weise wird versucht, die Menschen zu verkehrsgerechtem Verhalten zu motivieren? Und was sagen diese Bemühungen über eine immer mobiler werdende Gesellschaft aus?

Wie der zunehmende und sich beschleunigende Individualverkehr im 20. Jahrhundert ist auch die damit einhergehende Entwicklung der Verkehrserziehung meist erstaunlich unhinterfragt akzeptiert worden – obwohl der Mensch schon früh als zentraler Faktor für die Verkehrssicherheit erkannt wurde.

In einer nahezu das ganze Jahrhundert der Massenmotorisierung (1900–1992) umfassenden Längsschnittuntersuchung widmet sich der Historiker Dr. Kai Nowak der Verkehrserziehung in (West-)Deutschland und ihrem historischen Wandel. Dabei steht für ihn die Frage im Mittelpunkt, wie in einer komplexen Gesellschaft die Suggestion kollektiver Sicherheit hergestellt wurde und was dies wiederum über deren selbstregulative Prozesse sowie die zugrundeliegenden Menschenbilder und Ordnungsvorstellungen aussagt.

Ausgehend von einer Vielzahl archivalischer und publizierter Quellen werden zunächst die im Bereich der Verkehrserziehung tätigen Akteure in Deutschland kartiert. Im Anschluss wird mit diskursanalytischen und kulturhistorischen Methoden beschrieben, wie sich die Verkehrserziehung institutionalisierte, ausdifferenzierte und im Laufe der Zeit veränderte. So leisteten nicht nur staatliche Institutionen wie die Polizei einen Beitrag, sondern auch Vereine wie Automobilclubs und Akteure aus Erziehung, Wirtschaft und Wissenschaft schalteten sich in gesellschaftliche Sicherheitsdirskurse ein.

Anhand dieses Akteursensembles, das fast alle Funktionsbereiche der Gesellschaft umfasst, beabsichtigt Dr. Nowak zu zeigen, wie verkehrssicherheitliche Expertise hergestellt und gesellschaftlich wirksam gemacht wurde. Die Auswertung verschiedener Überlieferungen – von der Akte im Ministerium bis zum Fernsehdauerbrenner „Der 7. Sinn“ – verspricht neues Licht auf die spezifischen Sicherheitsdidaktiken zu werfen und den Weg vom Konzept zum politischen Programm und zur pädagogischen Praxis zu ergründen.

Nicht zuletzt werden die Medien der Verkehrserziehung auf ihre Lernziele, Methoden und Strategien hin untersucht, die sich nicht in der Vermittlung von Wissen erschöpfen. Sie versuchen, „richtiges“ Verhalten im Unterbewussten zu verankern, damit es routiniert abgerufen werden kann. Um dies zu erreichen, kommen wiederkehrende Leitsätze und Faustregeln („halber Tacho Abstand“), aber auch religiöse und ethische Begründungen, sanfte und Schockpädagogik, formelhafte Appelle und Benimmregeln („Kavalier der Straße“), virtuelle Nahkontrolle („Hör auf Deine Frau, fahr vorsichtig“) und Sanktionsdrohungen zum Einsatz. Als einschlägige Quellen dienen Dr. Nowak Bildungsmedien und Kampagnenmaterialien: von Fibeln und Lehrbüchern über Verkehrsspiele und Kinderbücher bis hin zu Slogans und Autobahnplakaten.

Die Betrachtung der zeitlichen Veränderungen sowie Kontinuitäten der vielfältigen Aushandlungsprozesse der Verkehrspädagogik ermöglicht es, ein grundlegendes Paradoxon der Verkehrserziehung offen zu legen: Einerseits markiert sie den Straßenverkehr fortwährend als Sicherheitsproblem, um die Notwendigkeit verkehrsgerechten Verhaltens zu unterstreichen, andererseits ist sie eine zentrale Voraussetzung dafür, hinreichende Sicherheit zu suggerieren.

Am Ende des Forschungsvorhabens steht eine Monographie, in der die Verkehrserziehung erstmals über die politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinweg in eine Gesellschafts- und Kulturgeschichte von Disziplinierung und Selbstregulierung sowie von Sicherheit und Risiko eingeordnet wird.

Verkehrsspiel "Der gute Schupo" aus den 1930er Jahren

Stipendiat

Dr. Kai Nowak, Leipzig 

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Vorhaben durch die Gewährung eines Forschungsstipendiums sowie die Übernahme von Reise- und Sachkosten.

 

Dieses Projekt wurde im März 2022 dokumentiert.