Dokumentation zu diesem Projekt

Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation. Ein Projekt zur Erschließung von Sachzeugen zur alltäglichen Frömmigkeitspraxis in Mitteldeutschland

Einführung

Die Jahrzehnte vor Beginn der deutschen Reformation galten lange als eine von klerikalen Missbräuchen, kirchlicher Unordnung und allgemeiner sozialer Unruhe geprägte Krisenzeit. Ergebnisse neuerer Forschungen lassen diese Epoche jedoch als kulturell fruchtbare Zeitspanne erscheinen, in der eine starke und relativ konfliktfreie Verkirchlichung der gesamten Gesellschaft eine breite religiöse Vielfalt nicht ausschloss. Insbesondere der mitteldeutsche Raum, das Ursprungsland der Reformation, wurde dabei bislang wenig erforscht, da einerseits die protestantische Prägung dieser Region ältere Formen der Frömmigkeit zum Verschwinden brachte und andererseits die ideologische Dominanz des Dritten Reiches und der DDR ein halbes Jahrhundert lang die historische Erforschung religiöser Kultur verhinderte und das Bewusstsein für diese Aspekte der eigenen Geschichte weitgehend auslöschte.

Ziel eines von Thomas T. Müller, Leiter des Zweckverbands der Mühlhäuser Museen, initiierten Forschungsprojekts ist es, durch eine repräsentative Bestandsaufnahme von Sachzeugnissen vorreformatorischer Alltagsreligion aus dem mitteldeutschen Raum und deren kontextueller Dokumentation die in dieser Region weitgehend vergessene religiöse Lebenswelt des späten Mittelalters wieder zu entdecken. Die Phänomene spätmittelalterlicher Frömmigkeit sollen dabei als eine das gesamte Leben der Gesellschaft integrierende Wirklichkeit verstanden werden. Im Rahmen des Projekts führt der Bearbeiter, Dr. Hartmut Kühne, umfangreiche Recherchearbeiten in den Inventaren, Katalogen und Sammlungsbeständen mittlerer und kleiner Museen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen durch. Der Fokus ist dabei nicht auf die traditionellen musealen Sammlungsraster gerichtet, sondern zielt darauf, die Funktion von Objekten in bestimmten Lebenskontexten zu verorten und ihre religiösen Aspekte sichtbar zu machen. Unabhängig vom Blick auf die nachfolgende Reformation soll so neues Licht auf die Frage geworfen werden, welche Gestalt von Religion das »lange 15. Jahrhundert« prägte.

Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf die Zeit zwischen dem Beginn des Großen Abendländischen Schismas 1378 und dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Charakteristisch für die zu untersuchende Entwicklung scheint zu sein, dass die Stadt, obwohl sie nur für einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung den eigentlichen Lebensraum bildete, zum paradigmatischen Ort der »neuen« Religiosität bzw. der verstärkten Kirchlichkeit wurde und diese erst in den Jahrzehnten vor Ausbruch der Reformation mehr und mehr auch das flache Land erfasste. Die Bedeutung der flächendeckenden Kirchenorganisation durch Pfarrkirchen und Kapellen, aber auch die Wirkung der städtischen Bettelorden auf dem Land soll bei der Untersuchung nicht außer Acht gelassen werden. Signifikant für die religiöse Situation war ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen der Hochschätzung individueller Erfahrung und der gleichzeitigen Dominanz von »Modetrends« und Massenhaftigkeit. Dies drückte sich auch in neuartigen Formen der medialen Kommunikation und Reproduktion aus, die sich im religiösen Bereich durch die Verwendung der neuen Drucktechniken für Andachtsbilder, Ablässe etc. zeigten. Damit einher ging die Ausweitung des Bildungswesens durch Stadt- und Dorfschulen, was die Alphabetisierung breiterer Bevölkerungskreise förderte und so die Rezeption der reformatorischen Botschaften erst ermöglichte.

Während einer ersten Recherchephase sieht Dr. Kühne Kataloge und vergleichbare Publikationen zu Dauer- und Sonderausstellungen sowie die seit den 1880er Jahren erscheinenden Kunstinventare durch und geht auf die Suche nah wenig bekannten relevanten Museumsbeständen. Anschließend soll durch den Besuch aller rund 30 berücksichtigten Museen die Erfassung von Objekten möglich werden, die in diesen Publikationen bislang nicht erwähnt wurden. Nach Abschluss dieser etwa einjährigen Phase, die auch eine photographische Dokumentation mit einschließt, befasst sich Dr. Kühne sich in einem zweiten Schritt mit der kontextbezogenen Deutung der einzelnen Objekte. Mit Blick auf eine zukünftige Publikation wird er ein überschaubares Ensemble von ca. 200 Objekten bzw. Objektgruppen auswählen, das ein breites Spektrum von lebensweltlichen Kontexten abdeckt.

Das Projekt ist eingebunden in eine Forschungskooperation der großen kulturhistorischen Museen in Magdeburg, Leipzig und Mühlhausen, des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde, der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und der Historischen Kommission für Thüringen. Es bildet die Grundlage für eine im Jahr 2011 durchgeführte wissenschaftliche Tagung sowie einen Ausstellungszyklus in den Jahren 2013 und 2014 in den Mühlhäuser Museen, dem Kulturhistorischen Museum Magdeburg, dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig und eventuell auch in kleinerem Rahmen in Luthers Sterbehaus in Eisleben.

Fördermaßnahmen

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Projekt seit 2010 für zwei Jahre durch die Gewährung von Fördermittel in einer Gesamthöhe von knapp 70.000 Euro. Darin enthalten sind ein Forschungsstipendium für den Projektbearbeiter Dr. Hartmut Kühne sowie Mittel zur Übernahme von Reise- und Sachkosten.

Das Projekt im Film

Dieses Forschungsvorhaben ist Teil der zweiten Staffel von L.I.S.A.video, dem auf L.I.S.A - Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung verankerten Filmprojekt. Insgesamt fünf Teams von Wissenschaftlern, die in einem von der Stiftung geförderten Projekt tätig sind, haben ihre Forschungsarbeiten gefilmt. Fünf „erzählende“ Episoden dokumentieren den Forschungsprozess. Vier weitere Folgen sind jeweils einem Forschergespräch, einem Teamporträt, dem wissenschaftlichen Umfeld und einem relevanten Objekt, dem „Schlüsselstück“, gewidmet. Die Filme wurden episodenweise im Wissenschaftsportal veröffentlicht.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um direkt zu den Filmproduktionen bei L.I.S.A.video zu gelangen:

  1. Himmlische Fundgrube - Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation (Deutschland)
  2. Neues aus der Himmlischen Fundgrube - Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation (Deutschland)

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For an English version, please click on the following links:

  1. Celestial Treasure Trove - Everyday Life and Piety on the Eve of Reformation (Germany)
  2. News from the Celestial Treasure Trove - Everyday Life and Piety on the Eve of Reformation (Germany)

40 Jahre - 40 Projekte

Dieses Projekt war Teil der Jubiläumssseite zum 40-jährigen Bestehen der Gerda Henkel Stiftung.

Dieses Projekt wurde 2012 dokumentiert.