Johanngeorgenstadt als verschwindende Stadt. Eine historische und geographische Mikrologie des Verlusts

Zeichnung des ehemaligen Marktplatzes von Johanngeorgenstadt von circa 1840. 260x420 mm.

„Man kann Menschen umsiedeln, ihre Häuser abrei­ßen und Hilfe verwehren, aber den Stolz der Menschen und die Liebe zu ihrer Stadt kann man nicht brechen!“ So heißt es auf einer Gedenktafel in Johanngeorgen­stadt. Sie wurde 2013 aufgestellt, um an die Umsied­lung der Stadtbevölkerung und die Demonstrationen dagegen im Jahr 1953 zu erinnern. Zwischen 1950 und 1970 verschwanden in Sachsen und Thüringen mehrere Orte von der Landkarte. Sie mussten dem Uranbergbau der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesell­schaft „Wismut“ weichen. Neben einigen Orten in Thüringen wurden beispielsweise in Oberschlema im Erzgebirge zwischen 1952 und 1957 ca. 1.700 Einwoh­ner wegen Bergschäden umgesiedelt. Besonders hart traf es dabei die sächsische Kleinstadt Johanngeorgen­stadt. Gegründet nahe der böhmischen Grenze von Glaubensflüchtlingen kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg, wurde die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg für eine kurze Zeit ein Zentrum des Uranbergbaus. Die Einwohnerzahl stieg zunächst von circa 7.000 im Jahr 1946 auf über 40.000 Mitte der 1950er Jahre an. In den Jahren 1951 bis 1957 wurden 4.000 Einwohner aus der Altstadt in die neu gebaute Neustadt umge­siedelt – offiziell wegen Bergschäden. Die Stadt verlor damit ihr historisches Zentrum und trat nicht zuletzt mit dem Ende des Wismut-Bergbaus im Jahr 1958 in eine lange Phase des demographischen Niedergangs ein. Im Jahr 1976 lebten dort etwa 10.000 Menschen, 2000 noch 6.300 und heute nur 3.897 Menschen.

Gedenktafel für die Teilnehmer der Demonstration gegen die Umsiedlung 1953 mit Ansichten der Stadt.

Der Niedergang hatte primär wirtschaftliche Ursachen: Neben dem Rückgang des Bergbaus gerieten auch andere Branchen im Zuge der Vereinigung mit der Bundesrepublik in die Krise wie die Textil- und Möbelindustrie. Eine Hürde bei der Erschließung neuer Wirtschaftszweige wie dem Tourismus ist das Stadtbild, das in den Jahren des Bergbaus zerstört worden war. Der Abriss der Altstadt lastet als Hypo­thek auf der Stadt. Den kreativen Umgang der Ein­wohner mit diesem Verlust zu erforschen, ist das Ziel des Forschungsprojekts von PD Dr. Manuel Schramm und Prof. Dr. Simon Runkel. Wie gingen die Bewoh­ner mit dem Verlust der materiellen Erinnerungsorte um? Führte der Verlust der Altstadt zu Abwanderung in den Westen oder in andere Regionen der DDR? Und welche Auswirkungen hatte – und hat – er auf die lokalen Biographien und Praktiken? Gibt es Strate­gien der Resilienz im Umgang mit einschneidenden Verlusterfahrungen, und welche Faktoren begünstigen ihre Adaption?

In zwei Teilprojekten analysieren die Forscher, welchen Effekt der Abriss der Altstadt für die kulturelle und soziale Identität der Stadt bis heute hat: Im geschichts­wissenschaftlichen Teil wird der Wandel der lokalen Wahrnehmungs-, Wissens- und Erinnerungskultur sowie der Umgang der Behörden mit Umsiedelung und Protest in den Blick genommen. Im sozialgeographi­schen Teil wird die gegenwärtige geteilte Atmosphäre des Verlusts anhand von Biographien und lebenswelt­lichen Erfahrungen untersucht und die damit verbun­denen Praktiken der Bewohner mit ihnen gemeinsam erforscht.

So entsteht eine Mikrologie des Verlusts, die das Zusammenspiel von historischen, geographischen, kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren auf engem Raum vermisst und zu einem besseren Verständnis von „Lost Cities“ beiträgt. Die Ergebnisse des Projekts werden auf zwei Workshops vorgestellt und auch monographisch veröffentlicht. Es ist zudem geplant, im Rahmen einer Zukunftswerkstatt neue Perspektiven für Johanngeorgenstadt vor Ort zu diskutieren und den Anliegen der lokalen Bevölkerung Gehör zu verschaffen.

Projektleitung

PD Dr. Manuel Schramm
Prof. Dr. Simon Runkel

Institution

Technische Universität Chemnitz
Friedrich-Schiller-Universität Jena

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Vorhaben durch die Gewährung eines Forschungs- und eines Promotionsstipendiums sowie die Übernahme von Personal- und Reisekosten.

Das Projekt wurde im Frühjahr 2023 dokumentiert.