Culinary Concoctions of Austrian Cultural Identity in the Long Nineteenth Century

Modernisierung am Küchentisch. Die kulinarische Erfindung der österreichischen Identität im langen 19. Jahrhundert

Das Gebäude am Fleischmarkt 7 in Wien gehörte Julius Meinl, einem der größten Feinkosthändler und Kaffeeimporteure der Habsburgermonarchie. Die Fassade zeigt die Stadtwappen von Hamburg, Triest und London – Drehkreuze des Kolonialwarenhandels – und verdeutlicht die Anbindung der Monarchie an globale Handelsnetzwerke durch die Küche.

(übersetzter Projekttitel)

1897 veröffentlichte Marie von Rokitansky mit „Die Österreichische Küche“ eine Sammlung mehrerer hun­dert Rezepte, die sie alle selbst in ihrer Innsbrucker Küche ausprobiert hatte. Die Rezensenten waren begeistert, denn der Band enthielt in ihren Augen die besten Gerichte, die das Land der Habsburger zu bieten hatten: neben den erwartbaren Schnitzeln und Strudeln auch ungewöhnliche Suppenrezepte aus Katar sowie indisches Curry. Diese Gerichte in ein Buch zur österreichischen Küche aufzunehmen, zeugt von einem Österreichbild, das nicht an enge nationalistische Definitionen oder die imperialen Grenzen des Reiches gebunden war – vielmehr war es mit einem globalen Netzwerk der Ideen und Geschmäcker verwoben.

Hier setzt die Dissertation der Historikerin Amy Millet an. In ihrem Projekt zeigt sie die internationale Modernisierungsgeschichte Österreichs im langen 19. Jahrhundert sprichwörtlich am Küchentisch und wirft die Frage auf, wie die Küche nationale Identität stiftete und repräsentierte. Bislang standen bei Studien der österreichischen Identität die nationalistischen Ideologien der Zeit oder die kulturellen und politischen Institutionen im Zentrum, mittels derer die Habsbur­germonarchie die Loyalität ihrer Untertanen zu sichern suchte – oder anders: die Interaktion zwischen Indivi­duum und Staat. Amy Millet aber beginnt ihre Analyse nicht mit Vereinen, Ideologien oder Schulen, sondern mit dem Alltag der Menschen in Wien und Graz und fragt danach, welchen Beitrag kulinarische Praktiken wie Kochen, Einkaufen und Essengehen im habsburgischen Österreich dazu leisteten, Vorstellungen einer österreichischen Identität im 19. Jahrhundert zu entwickeln. Inwieweit verstärkte oder untermi­nierte das Konsumverhalten nationalistische Gefühle? Wurden durch den Konsum andere Identifikations­merkmale ausgedrückt, die schwerer wogen als natio­nale Zugehörigkeit, wie Klassenbewusstsein, impe­riale beziehungsweise kosmopolitische Ambitionen oder Geschlechtersolidarität?

Cover der Ausgabe aus dem Jahr 1910 von Marie von Rokitanskys Kochbuch „Die Österreichische Küche“ (Erste Auflage 1897)
Darstellung der ersten "Kochkunst-Ausstellung" in Wien 1884 in der Zeitschrift "Das interessante Blatt" vom 10. Januar 1884.

Dabei konzentriert sich die Historikerin auf die Zeit zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg, als die kriegsbedingten Mängel sowohl die Kochpraktiken als auch den öffentlichen Diskurs über Nahrung grundlegend veränderten. Die Dekaden vor Kriegsausbruch hingegen waren geprägt von Fortschritten im Transportwesen und bei der Nahrungsherstellung, durch die eine Vielzahl von Lebensmitteln erstmals verfügbar wurde – darunter auch eine überraschende Menge sogenannter „Kolonialwaren“. Denn obwohl das Habsburgerreich selbst keine Überseekolonien verwaltete, verfügte es mit Triest über einen der größten europäischen Importhäfen der Zeit.

Ausgehend von Kochbüchern, Unternehmensinventaren, Zeitungen und Magazinen, aber auch von staatlichen Dokumenten wie Import- und Zolllisten rekonstruiert Amy Millet die alltäglichen Transaktionen, die dem österreichischen Konsumverhalten zu Grunde lagen. Sie zeigt so, wie sich die Österreicher und Österreicherinnen durch ihr Essverhalten in die Welt einordneten – vom Marktbesuch, der es Frauen ermöglichte, in der sonst männerdominierten öffentlichen Sphäre zu agieren und sich vorpolitisch zu organisieren, bis hin zu den repräsentativen internationalen Küchenfestivals, die den Glanz des Habsburgerreichs fördern sollten.

Die so entstehende Monographie wird einen Beitrag zum Verständnis der Identitätsbildung in einer Zeit der rasanten Urbanisierung und Industrialisierung in Mitteleuropa leisten.

Stipendiatin

Amy Millet, Lawrence (Kansas, USA)

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Vorhaben durch die Gewährung eines
Promotionsstipendiums sowie die Übernahme von Reise und Sachkosten.

Das Projekt wurde im Frühjahr 2023 dokumentiert.