The Power of Maps: Cartography and Cultural Revolution in the USSR, 1917–1957

Die Macht der Karten. Kartographie und Kulturrevolution in der Sowjetunion, 1917–1957

Leuchtglobus an der Fassade des Zentralen Telegraphenamts in Moskau. Architekt: Ivan Rerberg, 1925/1928

(übersetzter Projekttitel)

Eine rote Fläche hier, eine trennscharfe Linie dort: Landkarten vermitteln kein neutrales Abbild der Wirklichkeit. Vielmehr erzeugen sie erst jene wirkmächtigen Raumvorstellungen, die schon manche Grenzziehung legitimiert und manche Aneignung der Umwelt nach sich gezogen haben. Denn mithilfe von Karten lässt sich Naheliegendes und Gegenwärtiges transzendieren, sie können zuvor ungeahnte Möglichkeitssphären eröffnen. Landkarten und auch denjenigen, die sie entwerfen, betrachten und benutzen, haftet deshalb oft etwas Visionäres, ja Überlegenes an. Nicht zufällig haben sich viele Staatenlenker über Karten gebeugt abbilden lassen. Anhand des Umgangs mit Karten und der Funktionen, die ihnen zugeschrieben werden, lässt sich viel über die Machtverhältnisse, Identitätsbestimmungen und Zukunftsentwürfe einer Gesellschaft erfahren.

Poster für den 19. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion 1952, DDR, Künstler unbekannt

Einer solchen Kulturgeschichte der Kartographie widmet sich der Historiker Dr. Nick Baron mit Blick auf die Sowjetunion. Er untersucht, welche Rolle Karten und Kartenlesen in den ideologischen und politischen Diskursen sowie im Alltagsleben der UdSSR zukam, wobei er sich auf den Zeitraum von 1917 bis 1957, zwischen Oktoberrevolution und dem Ende des Stalinismus, konzentriert. Karten, so Dr. Barons These, waren in der jungen Sowjetgesellschaft weit mehr als nur ein Werkzeug zur räumlichen Orientierung. Sie waren ein Symbol für die neue Zeit und die „Kulturrevolution“, die sich das Ideal des „Sowjetmenschen“ auf die Fahnen geschrieben hatte, um breite Bevölkerungsschichten für das neue Regime zu gewinnen. In der Bildsprache der Zeit dienten Karten als wesentliches Attribut dieses Prototyps eines „neuen Menschen“, der mit technischer Expertise, umsichtig und diszipliniert den Fortschritt vorantreibt. Kartographie und Revolution traten gar als wesensverwandte Unternehmungen in Erscheinung, da beide auf die Transformation einer rohen, noch unbehauenen Natur in eine fortschrittliche und harmonische Ordnung zielten. Stalin selbst bezeichnete einmal den Gebrauch von Karte und Kompass als Voraussetzung einer gewissen Kultiviertheit, und die Parteispitze überwachte die Gestaltung und Herstellung von Karten, griff sogar in Redaktionsprozesse ein. 

Der Geographie-Unterricht. Foto von Jewgeni Chaldej (1952)

Doch neben Vertretern der kommunistischen Parteielite und Propagandisten werden auch Lehrer und Erzieher, Künstler und Filmemacher in den Blick genommen, und nicht zuletzt die Alltagsperspektive. Denn Karten waren in der post-revolutionären Kultur omnipräsent: Sie fanden sich abgebildet in Zeitschriften und auf Gemälden, schmückten populäre Nachschlagewerke und Postkarten. An öffentlichen Gebäuden aus den 1920er Jahren prangte der Globus: unübersehbarer Hinweis auf den Anspruch zur Weltrevolution.

Der Ansatz einer kritischen Geschichte der Kartographie wird von Dr. Baron erstmals umfassend auf die Sowjetunion angewendet, was insgesamt die Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Kultur, Gesellschaft und Natur in der frühen Sowjetunion zu erhellen verspricht. Für seine Studie kann Dr. Baron auf eine langjährige Beschäftigung mit dem Thema sowie umfangreiche Forschungen in russischen Archiven zurückgreifen – Vorarbeiten, die vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine von großem Wert sind. Als Quellen dienen neben Karten und Dokumenten rund um ihre Gestaltung, Produktion und Wahrnehmung auch Schul- und Lehrbücher sowie populäre und künstlerische Darstellungen von Karten, darunter ausgewählte Filme. Die Forschungsergebnisse werden in mehreren Fachaufsätzen veröffentlicht und fließen in eine Monographie ein. 

"Die UdSSR auf der Weltkarte", aus: M. I. Nikishov, Geographischer Atlas der UdSSR (1951)

Stipendiat

Dr. Nick Baron, Nottingham

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützt das Vorhaben durch die Gewährung eines Forschungsstipendiums sowie die Übernahme von Reise- und Sachkosten.

 

Das Projekt wurde im Frühjahr 2024 dokumentiert.