Körperflüssigkeiten und -ausscheidungen der Götter des Alten Ägypten

Speiender Skarabäus, der Gott Chepri symbolisieren kann, Theben, Grab Ramses VI., Buch von der Nacht, 12. Nachtstunde (Umzeichnung)

„Da weinte er im Urwasser, denn er konnte seine Mutter, die Kuh, nicht sehen und die Menschen entstehen aus den Tränen seines Auges. Er lacht, nachdem er sie erblickte, und die Götter entstehen als Speichel“. So gibt eine kosmogonische Inschrift des griechischrömischen Tempels von Esna den altägyptischen Schöpfungsmythos der Menschen und Götter durch den kindlichen Sonnengott wieder. Aus den Sekreten des Allherren entsteht das Leben der Welt. 

Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen göttlicher Wesen spielen in vielen Religionen eine zentrale Rolle – man denke nur an den Wein als Blut Christi. Dennoch fehlte bislang ein Überblickswerk zu die­sem Themenkomplex für das Alte Ägypten. Diese Lücke zu schließen, ist das Anliegen der Ägyptologin Dr. Natalie Schmidt, die auf Basis hauptsächlich hieroglyphischer und hieratischer Quellen einen Zeitraum von circa 2.500 Jahren untersucht hat – beginnend mit den Pyramidentexten und endend mit den Tempeln und Papyri der griechisch-römischen Zeit. Die Sekrete der Götter des Alten Ägypten lassen diese zuweilen recht menschlich erscheinen. So verletzen die Götter sich selbst oder werden verwundet und vergießen rotes Blut. Sie erkranken und fiebern oder brechen in Schweiß aus. Das Sonnenkind kann sein Auge erst nach Überwindung der sekretierenden Augenkrankheit „bjdj“ öffnen und Osiris zieht sich im Zuge seiner Krönung eine eiternde Wunde zu.

„Isisblut“, tjt-Amulett aus rotem Jaspis, 664–304 v. Chr., 2,5 cm
Personifikation der Bergwerksregion Jspd, die ein grünes Mineral, das mit göttlichem jnf-Augensekret gleichgesetzt wird, herbeiträgt. Darstellung auf einem Pylon des Tempels von Edfu, Westseite, Soubassement

Hier endet jedoch der menschliche Vergleich, denn der Eiter des Osiris birgt kreatives Potential: Gemeinsam mit dem Blut des Gottes erzeugt er eine heilige Stätte in Form eines Sees. Ebenso wirkt das herabtropfende Nasenblut des Seth belebend auf Felder, und auch der Erdgott Geb lässt aus seinem Blut oder seinem Erbrochenen Vegetation entstehen. Wie die Menschen trauern auch die Götter und vergießen Tränen, jedoch kreieren diese neues Leben oder erwecken gar Tote. Die Gefühlswelt der altägyptischen Götter spiegelt die der Menschen wider, allerdings kann beispielsweise ihre Rage vernichtende Züge annehmen – insbesondere, wenn die in Zorn geratene Gottheit ein giftiges Tier verkörpert und somit auch über dessen Toxin verfügt und beispielsweise mit dem Gluthauch einer Speikobra oder dem Gift eines Skorpions ausgestattet wird. Die Götter übernehmen jedoch nicht nur Sekrete aus der Tierwelt, sondern auch charakteristische Verhaltensweisen ihrer tierischen Verkörperungen und zeugen damit nicht nur von einer ausgeprägten Naturverbundenheit der ägyptischen Religion, sondern auch von der detailgetreuen Naturbeobachtung der alten Ägypter. Je nach göttlichem Ursprung birgt der Same eines feindlichen Wesens für einen Gott oder eine Göttin potentielle Gefahr, kann aber auch zugleich neue Götter schaffen. Auch wenn diese und andere Körperflüssigkeiten den altägyptischen Göttern einen Hauch von Menschlichkeit verleihen, so bleiben sie dem Menschengeschlecht doch stets überlegen und spenden mit ihren Ausscheidungen ganz Ägypten Leben.

Dr. Schmidt hat insgesamt 15 Sekrete identifiziert und analysiert. So entstand erstmals ein Gesamt- und Nachschlagewerk zu Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen der Götter im Alten Ägypten samt der ihnen zugrundeliegenden Terminologie. Dabei charakterisiert sie jedes Sekret durch seine Funktionen und stellt die sakralen Ausdeutungen, Bewertungen sowie göttliche, lokale, kultische und architektonische Beziehungen heraus. Die Ergebnisse wurden als Dissertationsschrift an der Eberhard Karls Universität Tübingen eingereicht und sind in zwei Bänden im Verlag Harrassowitz unter dem Titel „Körperflüssigkeiten und -ausscheidungen der Götter des Alten Ägypten“ erschienen.

Stipendiatin

Dr. Natalie Schmidt, Tübingen

Förderung

Die Gerda Henkel Stiftung unterstützte das Vorhaben durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums sowie die Übernahme von Druckkosten.

Dieses Projekt wurde im Frühjahr 2023 dokumentiert.